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Stephan Scherzer: Die neue Vermessung der Welt

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MVFP Bundesgeschäftsführer Stephan Scherzer analysiert in MVFP impuls das Veränderungspotenzial und die Chancen der Presseverlage in der KI-Transformation.

Autonome KI-Robotertaxis fahren seit August auf den Straßen von San Francisco, Elon Musks Satellitennetze überziehen den Himmel, Sam Altman geht bei OpenAI ein und aus und spricht über das Nahen einer „Articial General Intelligence“ (AGI), die komplexe Aufgaben selbstständig und ohne Einmischung von außen lösen kann. Die Presseverlage in Deutschland loten parallel die Chancen künstlicher Intelligenz aus und implementieren KI in ihre Prozesse. Währenddessen ersticken Deutschland und die Wirtschaft in Bürokratie, die Welt und viele Bürgerinnen und Bürger schütteln den Kopf über eine dysfunktionale Energiewende, das 60-Milliarden-Haushaltsloch, ein Bildungssystem aus dem vergangenen Jahrhundert und ein paternalistisches Denken in der Politik.
 

Der mündige Mensch – wichtiger war er noch nie
Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz sind der wirksamste Schutz für mündige Bürgerinnen und Bürger ein kritischer Verstand, gute Bildung und echte Medienkompetenz. Das wirkliche Problem in Zeiten massiver Veränderungen und Unsicherheiten sind dabei nicht die Herausforderungen, sondern vielmehr die Gefahr, diesen Veränderungen mit der Logik von gestern zu begegnen und damit Chancen zu verspielen. Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz sind der wirksamste Schutz für mündige Bürgerinnen und Bürger ein kritischer Verstand, gute Bildung und echte Medienkompetenz. Das wirkliche Problem in Zeiten massiver Veränderungen und Unsicherheiten sind dabei nicht die Herausforderungen, sondern vielmehr die Gefahr, diesen Veränderungen mit der Logik von gestern zu begegnen und damit Chancen zu verspielen. Als Beispiel für neues Denken fällt mir Erich Sixt ein, der auf einer Veranstaltung sagte: „I want to make mobility so cheap, that only the rich can a ord to own a car.“ Das ist etwas anderes, als zu sagen, ich möchte die erfolgreichste Autovermietung der Welt an meine Kinder übergeben. Eben der Versuch, die Zukunft nicht mit den Rezepten und Lösungswegen der Vergangenheit zu managen, sondern neu zu denken, sich neu zu erfinden. „Think different“ war 1997 die Apple-Kampagne, der Wake-up Call von Steve Jobs, um sein Unternehmen auf einen komplett neuen und unglaublich erfolgreichen Kurs zu bringen. Das einminütige Video lohnt sich immer wieder – gerade jetzt, in Zeiten des unabwendbaren Wandels.
 

Zwei Geschwindigkeiten
Dieser mir wirklich unheimliche Kontrast zwischen der live zu erlebenden Technologieexplosion und den reformunfähigen, verkrusteten Strukturen in unserer Gesellschaft zeigt uns die zwei Geschwindigkeiten in unserer Welt. Die globalen Torwächterplattformen investieren in diesem Jahr mehr Kapital in die Weiterentwicklung KI-gestützter Systeme, als das 60-Milliarden-Haushaltsloch der Bundesregierung ausmacht. In Übersee wird die Zukunft gestaltet – mit großer Unterstützung der US-Regierung (Microsoft, OpenAI, Google, Amazon, Apple, Facebook) und mit Chinas autokratischem System (TikTok, Baidu, Alibaba oder Tencent) – bei uns hofft man auf Aleph Alpha (eine klasse Company – aber dort arbeiten derzeit nur rund 100 Menschen) und fördert Chipfabriken von Intel, die allerdings nur produzieren und keine Grundlagenforschung betreiben. Stopp – die Intel-Fabriken sollten ja aus dem 60-Milliarden-Loch finanziert werden.

Wir erleben einen Gutenberg-Moment – mindestens
Unsere Reise in die KI begann Anfang der 1950er-Jahre, als Maschinen zum ersten Mal das Mühlespiel meisterten und Menschen in diesem einfachen Brettspiel besiegen konnten. Die Begrifflichkeit der „künstlichen Intelligenz“ wurde auf einer Konferenz am Dartmouth College im Sommer 1956 entwickelt und definiert. Organisiert wurde die Konferenz von John McCarthy, Marvin Minsky, Nathaniel Rochester und Claude Shannon. Sie formulierten damals, dass „jeder Aspekt des Lernens oder jeder anderen Eigenschaft der Intelligenz in so präziser Weise beschrieben werden kann, dass eine Maschine dazu gebracht werden kann, sie zu simulieren“. Dies war sozusagen die Geburtsstunde der künstlichen Intelligenz in Technologie und Forschung.

Das Ziel der Konferenz war es, die Grundlagen der KI zu erarbeiten und Methoden zu finden, um Maschinen beizubringen, Probleme zu erkennen und sie auf jene Art und Weise zu lösen, wie es ein Mensch tut. Genau wie es ein menschliches Gehirn mit seinem hochkomplexen neuronalen Netzwerk tut, das sich immer wieder neu strukturieren kann, um auch in neuen Umgebungen zurechtzukommen. Der englische Mathematiker Alan Turing formulierte 1950 ein Kriterium für KI, wonach maschinelle Intelligenz dann vorliegt, wenn das Verhalten einer Maschine für menschliche Beobachter nicht von dem eines Menschen unterscheidbar erscheint.
 

Nicht nur ein Spiel
Mit jedem Jahrzehnt wurden die Maschinen besser, setzten Meilensteine und übertrafen die menschlichen Champions von Backgammon über Schach bis Go. Während die ersten Siege auf schierer Rechenleistung basierten – Kasparow wurde von Big Blue schlicht in Grund und Boden gerechnet –, zeigte der Erfolg von AlphaGo, der KI von Google, beim Sieg über den weltbesten Go-Spieler Lee Sedol 2016 eine neue Qualität: Kreativität und eine Art von Intuition. Go, ein jahrtausendealtes Spiel mit tiefen strategischen Ebenen, war für Computer lange Zeit nicht zu knacken. Während ein Schachspiel durchschnittlich 20 mögliche Züge pro Position hat, sind es beim Go etwa 200. Die schiere Anzahl der möglichen Spielpositionen im Go übertrifft sogar die Anzahl der Atome (sic) im bekannten Universum.

Daher war die traditionelle Methode, alle möglichen Züge mit reiner Rechenkraft zu analysieren, bei Go nicht praktikabel. Selbst die schnellsten Supercomputer der Jetztzeit können nicht alle Züge berechnen. Da trat AlphaGo ins Rampenlicht. Entwickelt von DeepMind, einem Tochterunternehmen von Google, verwendete AlphaGo einen neuartigen Ansatz, der auf neuronalen Netzwerken und maschinellem Lernen basierte. Anstatt jeden möglichen Zug zu berechnen, wurde AlphaGo darauf trainiert, das Spiel wirklich zu „verstehen“ und Intuition zu entwickeln, ähnlich wie ein menschlicher Spieler. Durch das Training mit Millionen von Go-Partien und das Erlernen aller von Menschen gespielten Züge und taktischen Knie entwickelte AlphaGo eine Art von Intuition und konnte kreative, unerwartete und vor allem neue und erfolgreiche Züge in sein Spiel einbringen.

Der Sieg von AlphaGo über Lee Sedol war deshalb nicht nur ein Triumph der Maschine über den Menschen, sondern zeigte eine Maschine, die kreativ, innovativ und in mancher Hinsicht sogar künstlerisch spielen konnte. Einige Züge von AlphaGo wurden von Go-Experten als „divine“ bezeichnet – Züge, die von menschlichen Spielern in 3.000 Jahren nicht in Betracht gezogen worden waren.
 

Wendepunkt durch KI
Natürlich ist Go immer noch ein Spiel mit Regeln und bestimmten Abläufen – trotzdem: AlphaGo enthüllte einen Blick auf eine neue Art von KI. Die Menschen waren der Meinung, alle Züge und Strategien seien in über 3.000 Jahren erdacht und gespielt worden. Was für ein Irrtum. Es lohnt sich, diesen Gedanken auf andere Bereiche der Forschung und Wissenschaft zu übertragen, um das Veränderungspotenzial und die Chancen zu erahnen.

Dieser Moment markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Es zeigte, dass Maschinen nicht nur durch reine Rechenleistung, sondern auch durch Lernen und Anpassung sogar eine Art Intuition entwickeln können. Der Sieg von AlphaGo signalisierte die Ankunft einer neuen Art von KI, die in der Lage ist, tiefgreifendes Lernen mit kreativem Denken in einer Weise zu kombinieren, die zuvor für unmöglich gehalten wurde. In dieses Bild passt auch die aktuell von Sam Altman angestoßene Diskussion über die Chancen und Risiken einer von der Menschheit unabhängigen und zugleich enorm leistungsfähigen „Artificial General Intelligence“ (AGI), einer „Superintelligenz2. Auch wenn es nach Science-Fiction klingt – in diesem Plot sind wir alle live dabei. Selbst wenn so einiges übertrieben oder weit hergeholt erscheint: Es ist besser, die KI-Entwicklung mit höchster Dringlichkeit aktiv zu begleiten. Denn wer hätte es vor 2007 für möglich gehalten, dass Smartphones zur digitalen Fernbedienung der Welt werden und Menschen heute im globalen Durchschnitt knapp fünf (!) Stunden damit verbringen – bei Jugendlichen unter 18 Jahren nähert sich der Wert zehn Stunden am Tag. Und schauen Sie mal auf Ihre eigene Bildschirmzeit.
 

A Moment in Time
Als junger Redakteur bei der „Macwelt“ nahm ich Anfang der 90er-Jahre an einer Pressereise ins Silicon Valley teil. Dort hatten wir u. a. ein inspirierendes Trffen mit Steven Wozniak, einem der Apple-Gründer. Er erzählte dabei von seiner Vision von „intelligent agents“, die für den Menschen völlig selbstständig Aufträge erledigen und Aufgaben aller Art bearbeiten könnten. Er war sich damals ziemlich sicher, dass die Systeme schon in ein paar Jahren so weit sein würden – es hat dann doch etwas länger gedauert: 30 Jahre später wird diese Vision Realität. Die Voraussetzungen sind jetzt gegeben: Die notwendigen Rechenkapazitäten und die Cloud stehen bereit, leistungsfähige LLMs (Large Language Models) sind entwickelt, das Kapital für Forschung und Implementierung wurde von den Gigaplattformen in den vergangenen 15 Jahren angehäuft und wird jetzt in nie gesehener Geschwindigkeit in das System injiziert. Wie so oft sind die Medienunternehmen, die Presseverlage direkt und gleich zu Anfang von diesen gewaltigen Transformationskräften betroffen. So war es schon bei der Einführung des Internets, dem Quantensprung durch das Smartphone, die Weiterentwicklung der Megaplattformen und nun durch den Aufbruch ins KI-Zeitalter.
 

Kein „Ja, aber“-Moment
Wir alle erleben diese nicht aufzuhaltende Revolution hautnah beim Entstehen mit – es ist so, als hätten wir Gutenberg damals in seine Werkstatt geschaut. Wer hätte angesichts der kleinen Vervielfältigungsmaschine geahnt, wie die damals ermöglichte Demokratisierung der Information die Welt verändern würde. Heute – mit Blick auf die KI-Entwicklung – spüren viele den Veränderungs- und Transformationstsunami, der unaufhaltsam auf uns zurollt. Das ist gut so. Denn ein „Ja, aber“ ist wie so oft, aber in diesem Fall ganz besonders, keine Option. Chancen und Risiken müssen gesellschaftlich und unternehmerisch abgewogen werden. Aber möglichst nicht als Zuschauer an der Seitenlinie, sondern mitten auf dem Spielfeld. Seit Anfang der 90er-Jahre arbeite ich in der Pressewelt. Transformation und Veränderung waren dabei meine ständigen Begleiterinnen. Die Älteren unter uns können sich noch gut an die „DTP-Revolution“ erinnern, die Umstellung vom klassischen Satz auf Desktop-Publishing – nicht mehr als ein Sturm im verlegerischen Wasserglas im Vergleich zur digitalen Transformation und der globalen KI-Revolution. Die Presseverlage befinden sich mitten in der nächsten Transformationsstufe: von Print hin zu einem plattformagnostischen Ansatz – die Zielgruppen werden dabei über jeden gewünschten Kanal bedient. KI zündet nur eine weitere Antriebsstufe, die all das, was wir bisher an Veränderungswucht erlebt haben, in den Schatten stellen wird. Die Smartphones, die bereits jetzt KI implementiert haben, sind die Fernbedienungen dieser neuen Welt. Um den Einfluss der künstlichen Intelligenz zu verstehen, müssen wir sie mit anderen revolutionären Erfindungen wie dem Gutenberg-Druck, der Dampfmaschine, der Elektrifizierung der Welt, dem Internet und dem iPhone vergleichen. In vielerlei Hinsicht übertrifft KI diese Technologien in ihrer disruptiven Kraft, weil sie die bestehende, digitale Infrastruktur nutzt und wie Strom jeden Bereich des menschlichen Lebens durchdringen und global skalieren kann – in der Wirtschaft und in der Gesellschaft.
 

Gemeinschaft der Presseverlage
Der MVFP ist der erste Medienverband in Europa gewesen, der im Sommer eine KI-Erklärung veröffentlicht hat. Mit Spezialisten aus den Presseverlagen in der AI Steering Group des MVFP und einem hervorragend besetzten AI Legal Committee, das wir gemeinsam mit dem BDZV aufgesetzt haben, arbeitet unser Verband intensiv daran, die medienpolitische und unternehmerische KI-Strategie zu gestalten. Das Ziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen technologischem Fortschritt und ethischen Überlegungen zu finden, damit KI dem Gemeinwohl dient, die Presse- und Meinungsfreiheit stärkt und den Presseverlagen unternehmerische Handlungsmöglichkeiten bei fairen Marktbedingungen ermöglicht. Die KI-Revolution ist längst in vollem Gange und wird jeden Aspekt unseres Lebens beeinflussen. ChatGPT hat ihr zum ersten Mal ein Gesicht gegeben – ein Blick für alle auf die Möglichkeiten, die sich auftun können. Unter der Motorhaube ist die Entwicklung wie so oft schon sehr viel weiter fortgeschritten. Das zeigen die massiven Veränderungen und Investitionen bei Microsoft, Google, Facebook, Apple und Amazon. Es ist richtig, dass die Presseverlage, unsere Branche in all ihren Facetten diese Technologie umarmen und gleichzeitig wachsam sind. Im KI-Zeitalter, in Zeiten des disruptiven Wandels, wird diese Revolution auch auf der unternehmerischen Seite ihre Gewinner und Verlierer haben und bestehende politische Systeme in ihren Grundfesten erschüttern. Einen Vorgeschmack werden wir beim US-Präsidentschaftswahlkampf erleben.
 

Mitten auf dem Spielfeld sein
Als Presseverlage, die sich im Medienverband der freien Presse zusammengeschlossen haben, stehen wir mitten auf dem Spielfeld der KI-Transformation. Die Fach-, die Publikums- und die konfessionelle Presse können und müssen alles tun, um in diesem neuen Zeitalter dabei zu sein, um die Menschen in ihrem privaten und beruflichen Leben mit unabhängigen und wahrhaftigen Informationen so zu versorgen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mündig und selbstbestimmt ein Bild machen können. Beim MVFP sind über 800 Kolleginnen und Kollegen aus den Verlagen in unseren Vorständen, Arbeitsgruppen und Ausschüssen engagiert. Gründe dafür sind die Kraft der Vernetzung, der Know-how-Transfer und der Wille, sich für die freie Presse einzusetzen. Dafür geben alle im Ehrenamt der Gemeinschaft das Wertvollste, was sie haben: Zeit und Aufmerksamkeit. Seien Sie gerne mit dabei – „we are hiring“.
 

10 Thesen: Presseverlage in der KI-Transformation

THESE 1 |
Künstliche Intelligenz ist wie Elektrizität: Sie durchdringt und verändert alle Bereiche des menschlichen Lebens und Miteinanders – beruflich und privat.

THESE 2 |
Künstliche Intelligenz verändert die Standards, verschiebt die Nulllinie – das Mittelmaß hat keine Chance mehr.

THESE 3 |
Menschen und Unternehmen, die künstliche Intelligenz nutzen, verdrängen im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Vertrauen diejenigen, die KI nicht nutzen.

THESE 4 |
Künstliche Intelligenz wird die Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Milieus noch viel weiter öffnen – wenn unser Bildungssystem so bleibt, wie es ist.

THESE 5 |
Effizient mit künstlicher Intelligenz zu kommunizieren und sie klug zu integrieren, ist eine Grundvoraussetzung für unternehmerischen Erfolg.

THESE 6 |
Die Website der Zukunft ist ein Suchfeld für eine Antwortmaschine – zumindest auf dem Smartphone.

THESE 7 |
Künstliche Intelligenz disruptiert alle uns bekannten digitalen Geschäftsmodelle und optimiert die analogen Geschäftsfelder.

THESE 8 |
Die Presseverlage und ihre Teams müssen ihre Marken zu absoluten Vertrauensankern machen: V.i.S.d.P. – „Verantwortlich im Sinne des Presserechts“ – ist das Vertrauenssiegel für verlässliche Informationsangebote.

THESE 9 |
Bei der Regulierung künstlicher Intelligenz ist Augenmaß wichtig – diese Prozesse brauchen Zeit. Deshalb muss beides parallel geschehen: KI in die Pressehäuser integrieren und gleichzeitig in der Gesetzgebung die Verfügungs- und Schutzrechte mit Blick auf die Chancen und Risiken künstlicher Intelligenz neu justieren.

THESE 10 |
Nur eine positive, unternehmerische „Let’s try it“-Haltung wird Menschen und Unternehmen herausfinden lassen, was in Zukunft funktioniert. Eine Leitfrage dabei ist: Was übersehe ich gerade?
 

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