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Yad Vashem: Erinnerung bewahren und erlebbar machen

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Im Interview mit PRINT&more sprechen Ruth Ur und Kai Diekmann vom Freundeskreis Yad Vashem in Deutschland über Erinnerung und historische Verantwortung  | erschienen in PRINT&more 2/2021

Der VDZ pflegt seit vielen Jahren eine enge Verbindung zu Israel, die neben Start-up-Touren ins Silicon Wadi ihren Höhepunkt 2013 mit der Verleihung der Goldenen Victoria an Shimon Peres hatte. Im „Festjahr 2021 – 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sprach PRINT&more mit Ruth Ur und Kai Diekmann vom Freundeskreis Yad Vashem in Deutschland.

PRINT&more | Die zentrale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel ist so gut wie jedem geläufig. Wer aber ist der Freundeskreis von Yad Vashem in Deutschland und worin besteht Ihre Aufgabe?

KAI DIEKMANN | Yad Vashem ist nicht nur der zentrale Erinnerungsort, sondern es ist vor allem der „Goldstandard“, wenn es um Forschung und Lehre zum Thema Holocaust geht. Es gibt weltweit kein größeres und umfangreicheres Archiv über die Shoah als in Yad Vashem in Israel. Und unsere Kernaufgabe als Freundeskreis ist es, der Botschaft von Yad Vashem Reichweite und Gehör zu verschaffen. Der deutsche Freundeskreis ist übrigens der jüngste Freundeskreis weltweit und feiert im nächsten Jahr sein 25-jähriges Jubiläum.

Wie versuchen Sie Ihrer selbst gestellten Aufgabe gerecht zu werden und mit welchen Mitteln?

RUTH UR | Zuerst einmal möchte ich sagen, dass wir uns als Übersetzer und Brückenbauer verstehen. In diesem Sinne möchten wir mit unseren Projekten ein möglichst großes Publikum erreichen. Normalerweise gibt es ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm, das natürlich coronabedingt im letzten Jahr nicht wie gewohnt stattfinden konnte. Ein Beispiel für unsere Arbeit möchte ich aber kurz schildern: Im letzten Jahr haben wir als deutscher Freundeskreis Yad Vashem die Ausstellung „Survivors – Faces of Life after the Holocaust“ im UNESCO-Welterbe Zeche Zollverein in Essen initiiert. Der international renommierte Fotograf Martin Schoeller hatte für dieses Projekt 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau 75 Überlebende in Israel fotografiert. So eine Arbeit eines deutschen Fotografen mit Überlebenden ist zwar unglaublich sensibel, aber auch ein ganz besonderes Zusammenkommen, das eine neue, frische Perspektive einbringt – eben mit den Augen eines Künstlers. Denn das haben wir uns zum Ziel gesetzt: Wie schaffen wir es, immer wieder einen neuen Blick auf dieses unfassbare Geschehen zu richten, damit es nicht nur im historischen Denken, sondern in der lebendigen Erinnerung erhalten bleibt? Und das gelingt uns dann mit Ausstellungen wie den „75 Survivors“, die trotz der Pandemie im letzten Jahr knapp 50.000 Gäste besuchten und die ab diesem Herbst in Maastricht zu sehen sein wird.

Frau Ur, Sie leiten seit gut anderthalb Jahren das deutsche Büro von Yad Vashem. Was ist aktuell die größte Herausforderung in Ihrer Arbeit?

UR | Bislang haben wir bei unserer Arbeit sehr von Zeitzeugen profitiert. Wir kommen jetzt aber zu einem Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur, weil uns diese Zeitzeugen eben immer weniger zur Verfügung stehen und der Zeitpunkt, zu dem es keine Zeitzeugen mehr geben wird, absehbar ist. Das ist ein wirkliches Problem, das man beispielsweise auch bei der Betrachtung des Ersten Weltkriegs beobachten kann: Der wird fast ausschließlich historisch verstanden. Wenn die Zeitzeugen fehlen, erreicht man aber die Herzen der Menschen nicht mehr.

Welche Veränderungen in der Wahrnehmung des Holocaust stellen Sie fest, wie hat sich das öffentliche Bewusstsein gewandelt?

DIEKMANN | Dass es heute möglich ist, im Bundestag von „Erinnerungsdiktatur“ zu sprechen, hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass es zu Demonstrationen kommt, auf denen Araber „Juden ins Gas“ skandieren dürfen. Und ich hätte mir zudem nicht vorstellen können, dass wir israelische Gäste davor warnen müssen, in Berlin mit der Kippa auf der Straße unterwegs zu sein. Das sind Dinge, von denen man eigentlich immer gedacht hat, das kann nicht sein. Dass das aber heutzutage möglich ist, zeigt, wie enorm wichtig es ist, die Erinnerung zu bewahren – und das ist unsere historische Verantwortung und nicht zuletzt auch Teil unserer Staatsräson!

Ehemaliger Chefredakteur der BILD, Gründer und Geschäftsführer des Start-ups Storymachine, viel gefragter Diskutant und Redner. Welchen Stellenwert hat für Sie, Herr Diekmann, Ihre Aufgabe als Vorsitzender des Vorstands beim Freundeskreis?

DIEKMANN | Das Thema beschäftigt mich, seitdem ich Schüler war. Einer der Gründe, warum ich mich für den Axel Springer Verlag interessiert habe, war, dass der Verleger gegen den gängigen Zeitgeist seine Redakteure u. a. darauf verpflichtet hatte, für die Wiedervereinigung einzutreten, aber eben auch für die Aussöhnung und für das Existenzrecht Israels. Wann immer es um das Lebensrecht der Israelis geht, müssen wir an der Seite Israels sein. Israel ist der Ort, an dem sich die Überlebenden des Holocaust zusammengefunden haben, um ein neues Leben zu beginnen. Das war etwas, was mich schon immer beschäftigt und begleitet hat.

Die Zahl antisemitischer Straftaten ist zuletzt stark angestiegen. Antisemitische Stereotype sind in Teilen der Gesellschaft fest verankert, wie man zuletzt auch immer wieder bei den Demonstrationen von Corona-Leugnern sah. Gibt es neuen Antisemitismus? Und wie sehen Sie die Rolle der Medien in der Rezeption des mittlerweile auch in der Öffentlichkeit offen zur Schau getragenen Antisemitismus?

UR | Es ist kein neuer Antisemitismus. Es ist der alte Antisemitismus, den wir kennen, der sich nur anders verkleidet. Aber die Stereotype sind die gleichen. Und es ist für mich immer wieder unfassbar, was man auf Demonstrationen erlebt, bei denen Judensterne getragen werden oder Ähnliches, und wie unsensibel mit solchen Symbolen und historischen Fakten umgegangen wird. Und hin und wieder wünsche ich mir von den Medien auch eine andere Sensibilität, wie bestimmte Themen behandelt oder auch Karikaturen gezeigt werden, die am Ende eben doch antisemitisch sind.

DIEKMANN | Selbstverständlich muss Kritik an der israelischen Politik zulässig sein, aber viel zu häufig versteckt sich hinter sogenannter Israelkritik einfach nur blanker Antisemitismus. Insbesondere wir hier in Deutschland sollten an diesem Punkt besonders sensibel sein und genau hinschauen.

Hat sich der Umgang der Medien mit Antisemitismus verändert?

DIEKMANN | Solange wir uns die Sensibilität erhalten, darüber erschrocken zu sein, solange macht mir das keine Angst. Aber es gibt einfach rote Linien, die in letzter Zeit zu oft überschritten wurden. Unsere roten Linien sind anders gezogen als in anderen Ländern – aus guten Gründen. Ich erkläre das immer meinen amerikanischen Freunden, warum das Persönlichkeitsrecht in Deutschland in Artikel 1 des Grundgesetzes steht und die Meinungsfreiheit eben erst in Artikel 5. Diese klare Reihenfolge resultiert aus unserer historischen Erfahrung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist ein Ergebnis unserer Geschichte. Deswegen steht bei uns die Holocaust-Leugnung zu Recht unter Strafe und in den USA eben nicht, wo das Recht auf freie Meinungsäußerung eben einen anderen Stellenwert hat.

UR | Aber auch in den USA vollzieht sich ein Wandel, wenn ich sehe, dass ein Unternehmen wie Facebook, das Holocaust-Leugnung ebendieser Begründung der freien Meinungsäußerung zuließ, dies mittlerweile als „Hate Speech“ klassifiziert und sperrt.

Stichwort Facebook: Wie setzen Sie als Freundeskreis soziale Medien ein und wie können diese bei der Verbreitung des Gedankens von Yad Vashem gerade bei Jüngeren helfen?

DIEKMANN | Neue Medien bieten natürlich ganz viele Möglichkeiten. Ich möchte als aktuelles Beispiel die „IRemember Wall“ nennen, bei der man seinen eigenen Namen virtuell mit dem eines Holocaust-Opfers verknüpft und so eine Art persönlicher Beziehung schafft. Die Opfer bekommen so für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Gesicht und werden dem Vergessen entrissen. Ein anderes Beispiel auf einer anderen Ebene ist die digitale Recherchemöglichkeit im Archiv der Gedenkstätte: Hier kann man einzelne Namen und Geschichten recherchieren. Das ist wirklich fantastisch. Selbstverständlich ist Yad Vashem auch auf Twitter, selbstverständlich ist Yad Vashem auf Facebook. Aber: Wir stehen für ein sehr sensibles Thema und fragen uns daher selbstverständlich immer, welche Plattform für uns und unser Anliegen die richtige ist. Wir können uns mit unserem Thema beispielsweise in keinem trivialen Umfeld bewegen. Konkret: Inwieweit passt Holocaust-Gedenken neben irgendwelche witzigen TikTok-Reels? Welcher Kontext ist der richtige? Aber auch hier hinterfragen wir uns selbstverständlich immer wieder neu.

Eine Frage zum Schluss, Frau Ur: Was würden Sie sich als Yad-Vashem-Freundeskreis von den Medien bzw. den Verlagen in Deutschland wünschen?

UR | Yad Vashem hat eine unglaubliche Menge an Wissen gesammelt und sammelt weiter. Dabei zu helfen, diesen Schatz publik und verfügbar zu machen, ist eines unserer Anliegen. Ganz wichtig dabei ist es, dass unsere Publikationen auch in deutscher Sprache erscheinen. Hierfür Partner zu finden, wäre mir ein besonderes Anliegen.

Das Interview führte Antje Jungmann.


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