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Rede des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, bei der Publishers‘ Night am 7. November 2016 in Berlin

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- es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank, lieber Vitali Klitschko, für die bewegenden Worte und den Film, in dem ich mich kaum wiedererkenne, scheint er mir doch deutlich zu freundlich geraten zu sein.

Ich bin sehr gerührt, dass Sie mir heute diesen Preis verleihen und ich fasse es als Ermutigung auf, nicht nachzulassen beim Kampf um ein friedliches und ein demokratisches Europa.

Auch wenn ich sehr dankbar über diese Auszeichnung bin, will ich doch Eines vorwegschicken: Heute ehren Sie auch einen Mann, der mit unglaublichem Mut für die Pressefreiheit kämpft. Während ich quasi berufsbedingt voller Leidenschaft für die europäische Sache streite, ist doch das Engagement eines anderen heutigen Preisträgers verbunden mit einem hohen persönlichen Risiko für ihn selbst und seine Familie. Wenn man trotz einer solchen Bedrohung den Mut für politisches Handeln aufbringt, ist das etwas sehr Besonderes.

Deshalb: Aus tiefem Herzen meine allerbesten Wünsche an Can Dündar, den ich für seine Arbeit nicht nur schätze, sondern auch bewundere und der für das, was er tut, meine volle Unterstützung hat.

Verehrte Damen und Herren,

wer die Axt an die Pressefreiheit legt, der tötet die Demokratie und das, was sich derzeit in der Türkei abspielt, ist nicht nur besorgniserregend, sondern es ist völlig inakzeptabel. Wir wollen gute und freundschaftliche Zusammenarbeit mit unserem Partner Türkei und wir anerkennen die großartige Leistung, die die Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise erbringt, aber kein Terror und kein Konflikt rechtfertigen die offensichtliche Verfolgung von Kritikern im eigenen Land. „Kehren Sie um“, rufe ich den Herrschenden in Ankara zu, „und greifen Sie die ausgestreckte Hand Europas zum Dialog über die Stärkung unserer Demokratien.“

Ich will diesen neuen und zusätzlichen Dialog zwischen EU und Ankara, denn gerade angesichts der fatalen Entwicklungen in der Türkei dürfen wir uns nicht abwenden, sondern müssen im Gespräch bleiben, auch und gerade um die progressiven Kräfte im Land zu unterstützen.

Gerade in Deutschland wissen wir doch, wie wichtig eine freie Presse und mutige und visionäre Journalisten und Verleger für den Aufbau eines Landes sind. Deshalb möchte ich an dieser Stelle dem scheidenden Präsidenten des Verlegerverbandes Hubert Burda für sein vielfältiges Engagement danken und Herrn Holthoff-Pförtner eine glückliche Hand als neuem Präsidenten wünschen.

Meine Damen und Herren,

manche sagen, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Ich halte das für eine falsche Beschreibung. 

  • Wenn Can Dündar an Leib und Leben bedroht wird und Journalisten und Oppositionelle in der Türkei wieder in Angst leben, ist das nicht postfaktisch.
  • Wenn Menschen in der Ukraine und anderswo für die Freiheit ihres Landes kämpfen, ist das nicht postfaktisch.
  • Wenn Bomben auf Aleppo fallen, dort Menschen sterben und verstümmelt werden, wenn Millionen auf der Flucht vor brutalen Diktatoren oder einem hemmungslosen sogenannten Islamischen Staat sind, dann ist das nicht postfaktisch.
  • Und wenn eine pöbelnde Menge Medienvertreter in unserem Land als „Lügenpresse“ bezeichnet, wenn Sicherheits- und Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behindert und gewählte Repräsentanten des Staates beleidigt und bedroht werden, dann ist das nicht postfaktisch.

Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir leben nicht in postfaktischen Zeiten! Wir leben in Zeiten der Orientierungslosigkeit, weil es in unseren Gesellschaften - im Arbeitsleben, in der technologischen Entwicklung, in den weltweiten Machtbeziehungen - zu gewaltigen Veränderungen gekommen ist und wir uns inmitten eines Umbruchs befinden. Das verunsichert Menschen. Und genau das machen sich gefährliche Rattenfänger zunutze, die vermeintlich einfache Lösungen haben, indem sie einen Sündenbock präsentieren: Mal sind es die Einwanderer, dann Europa, der Islam, dann die Medien oder eine vermeintliche Elite, die Schuld am Elend der Welt haben sollen. Das sind die populistischen Antworten, die natürlich kein einziges Problem lösen, die aber suggerieren, dass man im 21. Jahrhundert einen Zaun um das eigene Land bauen könnte und dadurch alles so bliebe wie in der vermeintlich guten, alten Zeit.

Im September, als der große Historiker Karl Dieter Bracher starb, habe ich nochmal sein Buch „Die Auflösung der Weimarer Republik“ zur Hand genommen. Dort beschreibt er vortrefflich, dass die NSDAP lange vor ihrer Machtergreifung vor allem eine wie er sagt „Ressentiment-Partei“ war. Ich sage das, weil manches, was ich tagtäglich im Europaparlament an ressentimentgeprägten Reden hören muss, fatal an die Rhetorik der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert.

Nun geht es mir nicht um einen unzulässigen Vergleich zwischen damals und heute. Aber dass es angesichts der Verrohung im politischen und im zwischen-menschlichen Umgang dringend einer Umkehr bedarf, davon bin ich fest überzeugt.

Sie alle hier im Raum wissen das, aber trotzdem wiederhole ich es eindringlich: Europa ist eine Realität gewordene Utopie: 

  • Ein Ort, wo Völker und Staaten sich vor vielen Jahrzehnten entschlossen haben, nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander zu wirken.
  • Ein Ort, wo eine wertebasierte Gesellschaft aufgebaut worden ist, die Freiheit, gleiche Chancen und Solidarität miteinander verbindet.
  • Ein Ort, wo kein Platz für Rassenhass, für Antisemitismus und Chauvinismus mehr ist.
  • Dieser Ort ist Sehnsuchtsort für Millionen von Menschen. Es ist der wohlhabendste, der friedlichste und sicherste Ort auf der ganzen Welt. 

Warum reden manche diesen Ort tagtäglich so schlecht? Warum erlauben wir es den schlecht-gelaunten populistischen Brunnenvergiftern, dass sie ihren Hass gegen andere Menschen versprühen - oft gegen die Schwächsten und Schutzbedürftigsten?

Verehrte Damen und Herren,

mir geht es nicht um Schönfärberei oder unkritische Affirmation. Denn es gibt vieles, das in Europa und in unseren Gesellschaften schief läuft und das kritisiert und verbessert werden muss.

Aber ein bisschen Dankbarkeit und ein bisschen Demut für das, was unsere Vorgänger-Generationen geschafft haben, fände ich Angesicht dessen, was ein Can Dündar oder ein Vitali Klitschko in ihrer Heimat erleben müssen, mehr als angemessen.

Wir müssen uns der Hetze, dem Hass entgegenstellen. Lassen Sie uns „Nein“ sagen, wenn jemand gegen Minderheiten, gegen Religionsgemeinschaften oder gegen Pressevertreter polemisiert.

Lassen Sie uns gemeinsam den Versuch unternehmen, in unserem Land und auf unserem Kontinent wieder Gräben zu schließen und zu einer neuen Kultur des Miteinanders zurückzukehren.

Ich danke Ihnen sehr für die Auszeichnung und ihre Aufmerksamkeit. //

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